Faszination Mond

Sie waren schneller als ich gewesen: Mit Fotostativen, Profikameras samt besonderen Objektiven, allerlei Zubehör, Vergrößerungsgläsern, Sitzhockern und sogar Picknickversorgung ausgerüstet belegten die Hobbyastronomen am Freitagabend die guten Plätze in der Hoffnung, die Mondfinsternis des Jahrhunderts vom ersten Augenblick an sehen und festhalten zu können. Es war alles umsonst: Eine tiefe Wolkendecke verdeckte für etwa eine Stunde die Sicht auf den Mond. Ich packte meine Ausrüstung erst gar nicht aus, fuhr nach Hause und konnte später bequem den „Blutmond“ vom Garten aus fotografieren. Ein besonderes Phänomen, in der Tat!

Der „Blutmond“ über Lüneburg am 27.7.2018 um 23:15 Uhr. (Foto: edp)

Am Sonntag habe ich darüber nachgedacht: Woher kommt diese Faszination , die dieser Gesteinsbrocken mit 3500 Kilometern Durchmesser auf die Menschen ausübt?

In allen Kontinenten und Kulturen gab es Götter, die den Mond verkörperten. Der sumerische Mondgott war beispielsweise der Schutzpatron der mesopotamischen Stadt Ur. In Höhlenmalereien sind Sicheln als Symbol des Mondes zu sehen, der wohl mit der Fruchtbarkeit der Frau in Verbindung gebracht wurde. Im Schöpfungsbericht wird er nur als „kleines Licht“ erwähnt (im Vergleich zum „großen Licht“, das für die Sonne steht), wodurch vermutlich einer Aufwertung entgegengewirkt werden sollte.

In der Literatur ist der Mond ein Zentralgestirn und stellt die Sonne in den Schatten. Faszinierend finde ich das sehr bekannte Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius (er starb im Januar 1815, also vor 203 Jahren, in Hamburg). Es lohnt sich, über den gesamten Text nachzudenken (hier abrufbar; hier ist eine Volksliedvertonung zu hören), ich will mich aber auf ein paar Gedanken über die dritte und vierte Strophe beschränken:

Seht ihr den Mond dort stehen? / Er ist nur halb zu sehen / und ist doch rund und schön: / so sind wohl manche Sachen, / die wir getrost belachen, / weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolzen Menschenkinder / sind eitel arme Sünder / und wissen gar nicht viel. / Wir spinnen Luftgespinste / und suchen viele Künste / und kommen weiter von dem Ziel. 

Natürlich wusste Matthias Claudius, warum es Halb- und Vollmond gab. Aber der halbe Mond war ihm ein Zeichen. In einer Zeit, in der die „Vernunft“ ganz oben auf der Werteskala stand, und somit Gefühle und Spiritualität als eher suspekt galten, wollte er warnend daran erinnern: Der Mensch ist mehr als Kopf und Intellekt. Vieles bleibt unseren Augen und Wissen verborgen und ist doch wahr.

Meinte das nicht auch der Apostel Paulus, als er (in 1. Korinther 13) schrieb: „Unser Wissen ist Stückwerk“?

Unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Wir sehen und erkennen immer nur in Stücken, beschreiben den Rüssel oder das Ohr und halten das fürs Ganze, ohne eine Ahnung von dem Elefanten zu haben, dem sie gehören. Wir kennen nie das Ganze. Wir kennen nie die ganze Wahrheit. Keiner von uns.

Matthias Claudius verschweigt nicht, dass uns oft etwas fehlt in unserem Leben. Das gefällt mir so an diesem Lied. Und noch mehr gefällt mir bei ihm der Glaube, dass das Fehlende auf eine geheimnisvolle Weise doch noch da ist – auch wenn wir es zuweilen nicht sehen; denn es hat alles mindestens zwei Seiten, wir aber kennen häufig die Rückseite nicht.

Weil wir die verborgene Seite eines Menschen nicht kennen (oft genug kennen wir nicht einmal uns selbst), sollten wir barmherziger miteinander umgehen und uns gegenseitig so annehmen, wie Gott uns angenommen hat – obwohl er uns wirklich kennt, auch unsere verborgenen Seiten!