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In Würde sterben dürfen

Cicely Saunders, 2002. (Foto: History of Modern Biomedicine Research Group; Lizenz: cc-by-sa 4.0)

Sie muss eine außergewöhnliche Frau gewesen sein: Cicely Saunders, die Begründerin der Hospizbewegung, wurde am 22. Juni 1918, also vor 100 Jahren, in Barnet, Hertfordshire (England) geboren.

Aus wohlsituierter Familie stammend, brach sie ein Studium der Philosophie, Politik und Ökonomie in Oxford ab, weil sie sich im gerade ausgebrochenen Zweiten Weltkrieg nützlich machen wollte. Sie ließ sich zur Krankenschwester ausbilden. Nach Kriegsende schloss sie ihr Studium ab und blieb in der Krankenpflege tätig. In dieser Arbeit wurde ihr bewusst, wie unzureichend Patienten im Endstadium ihrer Krankheit versorgt wurden.

Eine Erfahrung Ende der 1940er Jahre spielte eine entscheidende Rolle in ihrem Lebenslauf: Sie begleitete einen aus Polen stammenden Juden, der aufgrund einer fortgeschrittenen Krebserkrankung unter starken Schmerzen litt, während der Sterbephase. Das Vermächtnis dieses Überlebenden des Warschauer Ghettos, 500 Pfund, sollte das Startkapital zur Gründung eines Hospizes im Südosten Londons werden.

Um sich für die Hospizarbeit zu qualifizieren, beschloss Saunders, Ärztin zu werden. Neben dem Aufbau der Hospizarbeit prägte sie auch die Palliativmedizin, so zum Beispiel mit ihrer umfassenden Sicht des Schmerzes (Total Pain): physisch, psychisch, sozial und spirituell. Sie formulierte Basisprinzipien zur ganzheitlichen Begleitung (Palliative Care) durch ein multiprofessionelles Team, das durch ehrenamtliche Helfer unterstützt wird. Dabei spielen die Lebensqualität und die Selbstbestimmung des Patienten bis zum Schluss eine zentrale Rolle. Dessen Leben darf weder gewaltsam verkürzt noch verlängert werden, die belastenden Symptome sollen aber – so gut es geht – kontrolliert werden. Angehörige und enge Freunde werden grundsätzlich mit einbezogen und auch nach dem Tod ihres Angehörigen in der Trauerarbeit unterstützt.

Saunders starb 87-jährig am 14. Juli 2005 in dem von ihr eröffneten Hospiz.

Weltweit gibt es über 8.000 stationäre Hospize. Laut dem Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verband gab es 2016 in Deutschland rund 1.500 ambulante Hospizdienste sowie 236 stationäre Hospize, einschließlich der stationären Hospize für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Außerdem gab es mehr als 300 Palliativstationen in Krankenhäusern.

Ich bewundere Menschen wie Cicely Saunders, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, Menschen in ihren letzten Stunden und Tagen zu begleiten. Seitdem ich Informationstunden im Bereich Vorsorge (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht) in Kirchengemeinden halte, habe ich von den Teilnehmern nur positive Erfahrungen über die Hospizarbeit gehört. Aus diesem Grund empfehle ich, auch diese Möglichkeit in der Patientenverfügung anzugeben. Auch über die mir in meiner Umgebung bekannten Hospize (Bardowik bei Lüneburg und Uelzen) habe ich nur Positives von Angehörigen inzwischen Verstorbener gehört.

Über unsere Sympathie gegenüber allen, die sich hier einbringen, Angestellten wie Ehrenamtlichen, hinaus, können wir sie und ihren Einsatz in unsere Gebete aufnehmen. Das ist enorm wichtig, damit sie innerlich stark bleiben ohne abzustumpfen, von Gott jeden Tag eine extra Portion Empathie erhalten und sie nicht nur viel geben, sondern auch viel zurückempfangen. Mögen sie eines Tages die Worte aus dem Mund von Jesus Christus hören: „Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan.“ (Matthäusevangelium 25,40 Neues Leben Bibel)

Der Blick hinter den Vorhang

Ein Vater sitzt mit seinen zwei Söhnen in der Bahn. Diese schreien, zerren ihn an der Kleidung, rennen hin und her und nerven alle im Abteil. Der Vater starrt apathisch vor sich hin, statt für Ordnung zu sorgen. Schließlich wird es einem Reisenden zu bunt: „Kön­nen Sie Ihre beiden Jungs nicht im Zaum halten? Sie sehen doch, dass sich die anderen gestört fühlen.“

Der protestierende Fahrgast hätte ich sein können. Man vergisst so schnell, wie lebhaft die eigenen Kin­der damals waren. Sehr positiv wäre meine Einschät­zung dieses Mannes und seines Erziehungsstils nicht ausgefallen. Umso mehr hätte mir seine Antwort die Sprache verschlagen: „Entschuldigen Sie. Wir kom­men direkt aus dem Krankenhaus. Die beiden Jungs haben gerade ihre Mutter verloren.“

Schlagartig ändert sich die Atmosphäre. Plötzlich sind alle von Mitgefühl und Verständnis erfüllt. Kein Kopfschütteln mehr, stattdessen Sympathie und Anteilnahme. Die Worte des unter Schock stehenden Vaters schoben den Vorhang ein wenig beiseite, der den Blick in die verletzten Seelen dieser Familie ver­hüllt hatte.

Was diesen Jungen wohl innerlich bewegt? (Foto: talibabdulla, pixabay)

So sehr kann man sich täuschen, wenn man nur die offensichtliche Seite der Medaille kennt. Ich frage mich: Wie häufig habe ich in meinem Leben Menschen gedanklich kritisiert, verurteilt, abgestempelt, in eine Schublade gesteckt, aufgegeben, weil ich mich auf meinen ersten Eindruck verließ? Weil ich aus dem Offensichtlichen falsche – kurzsichtige oder vor­schnelle – Schlüsse gezogen habe?

Einmal sagte Gott zum Propheten Samuel Folgendes, um ihn vor einer falschen Entscheidung aufgrund des ersten, äußeren Eindrucks zu bewahren (1. Samuel 16,7):

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an.

Wie froh bin ich, dass Gott sich von dem, was jeder sieht, weder beeindrucken noch abschrecken lässt! In der Geschichte, der das obige Bibelwort entnommen ist, ging es um die Wahl des zukünftigen Königs Israels. Die äußere Erscheinung hätte den Propheten Samuel beinah den Falschen wählen lassen. Gott erkannte aber in dem Hirtenjungen David die verbor­genen Qualitäten des Herzens, nach denen er suchte.

In das Herz eines Menschen sehen zu können, ge­nauso wie seine Ideale und die Sehnsucht nach Gott und dem wahren Leben zu erkennen – das schaffen wir nicht allein mit unseren Augen. Dazu brauchen wir die „Brille Gottes“, die unseren Blick erweitert und vertieft.

Danke, Herr, dass du mir heute diesen Blick schen­ken willst!