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Wir sehen nur die Vorderseite

3. Strophe seines berühmten Liedes „Der Mond ist aufgegangen“, das zu den bekanntesten Werken der deutschen Literatur gehört und zum ersten Mal 1779 veröffentlicht wurde.

Welch tiefe Gedanken und welch aktuelle Bezüge enthält das so schlichte wie berühmte Abendlied von Matthias Claudius „Der Mond ist aufgegangen“!

Wenn es in der 2. Strophe heißt „Wie ist die Welt so stille / und in der Dämmrung Hülle / so traulich und so hold! / Als eine stille Kammer, / wo ihr des Tages Jammer / verschlafen und vergessen sollt“, denke ich daran, dass kurz zuvor der blutige bayrische Thronfolgekrieg ausgebrochen war. Ob es uns heute gelingen kann, beim Betrachten der Sterne am Himmelszelt vor der Größe und Schönheit der Schöpfung Gottes das Tosen der aufgewühlten Welt (des Tages Jammer) für eine Weile zu vergessen und der Macht Gottes mehr zu vertrauen?

Die 3. und die 4. Strophen sprechen mich besonders an: „Seht ihr den Mond dort stehen? / Er ist nur halb zu sehen / und ist doch rund und schön: / so sind wohl manche Sachen, / die wir getrost belachen, /weil unsre Augen sie nicht sehn. // Wir stolzen Menschenkinder / sind eitel arme Sünder / und wissen gar nicht viel. / Wir spinnen Luftgespinste / und suchen viele Künste / und kommen weiter von dem Ziel.“

Als Matthias Claudius sein Lied schrieb, stand die „Vernunft“ ganz oben auf der Werteskala. Auch in der Kirche und der Theologie sollte es „rational“ zugehen, vernünftig. Der Kopf war der wichtigste Körperteil und alle Gefühle, alle Spiritualität galt als eher suspekt. Es war die Hochzeit der „Aufklärung“ – aber auch schon die Zeit, in der manch wacher Geist, wie Claudius, warnte. Nur Vernunft und Verstand – da drohten dem Menschen ganze Dimensionen seines Lebens verloren zu gehen. Vernunft und Verstand sind wichtig, aber der Mensch ist mehr als sein Intellekt und sein Kopf. Darum erinnerte Claudius alle, die den Verstand vergöttern: Wie könnt ihr das lächerlich machen, was ihr nicht seht?

Matthias Claudius wusste, dass hinter dem halben Mond sich ein ganzer Mond verbarg, rund und schön. Der halbe Mond war ihm ein Zeichen: Vieles bleibt unseren Augen und unserem Wissen verborgen und ist doch wahr. Meinte das nicht auch Paulus, als er schrieb: „Unser Wissen ist Stückwerk“ (1. Korintherbrief 13,9ff.? Wir sehen und erkennen immer nur in Stücken; beschreiben den Rüssel oder das Ohr und halten das fürs Ganze, ohne eine Ahnung von dem Elefanten zu haben, dem sie gehören. Wir kennen nie das Ganze. Wir kennen nie die ganze Wahrheit. Keiner von uns. Das sollte uns „stolze Menschenkinder“ demütig machen. Und verständnisvoller unseren Mitmenschen gegenüber.

Es hat alles mindestens zwei Seiten, wir kennen häufig die Rückseite nicht:
• Wir belachen die schwache Leistung eines Mitarbeiters oder eines Freundes und wissen nicht, wie viel Überwindung oder Anstrengung es ihm gekostet hat, das zu tun.
• Wir bedauern einen Menschen in seinem Leid und wissen nicht, wie glücklich und zufrieden er in seinem Innersten ist.
• Wir beneiden den Nachbarn um seine Gesundheit, seine angeblich intakte Familie, seinen Wohlstand, kennen aber nicht seine schlaflosen Nächte, seine Angst vor der Zukunft.
• Wir beklagen, dass uns unsere Kinder nicht besuchen oder sich so selten melden, wissen aber nicht, dass sie vielleicht in einer Ehe- oder sonstigen Krise stecken, oder dass sie beinah im Stress des Berufs untergehen.
• Wir beschweren uns über das unfreundliche Benehmen der Krankenschwester oder der Pflegekraft und ahnen nicht, was in deren Ehe oder Familie gerade los ist, dass sie vielleicht eine schlaflose Nacht gehabt haben oder gerade um das Leben eines lieben Menschen ringen.

Weil wir die verborgene Seite eines Menschen nicht kennen (oft genug kennen wir nicht einmal uns selbst), sollten wir barmherziger und liebevoller miteinander umgehen. Wie anders würde es in unserer nächsten Umgebung (Familie, Arbeitsplatz, Kirchengemeinde, Nachbarschaft) aussehen, wenn wir unsere Mitmenschen so annehmen würden, wie Christus uns angenommen hat (Römer 15,7) – obwohl er uns wirklich kennt, auch unsere verborgenen Seiten!

Etwas mehr Bescheidenheit

(Foto aufgenommen am 27.4.2021 um 22:45 Uhr in Lüneburg)

[nx_spacer]Diese Woche konnten wir wieder einen wunderschönen „Supermond“ betrachten.* Dabei musste ich an die Worte der dritten Strophe des Abendliedes „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius (1740-1815) denken (sein Gedicht gehört zu den bekanntesten Werken der deutschen Literatur):

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.

Was bilden wir uns häufig ein, über etwas oder jemanden genau Bescheid zu wissen! Dabei kennen wir nur die halbe Wahrheit, die Vorderseite der Medaille, das, was für jeden offensichtlich ist. Wie sehr können wir uns dabei täuschen, Situationen fehleinschätzen oder gar Menschen belächeln!

Schon der Apostel Paulus sagte sinngemäß vor 2000 Jahren: Unser Wissen ist bruchstückhaft. Erst in der Ewigkeit werden wir das Ganze erkennen und verstehen (nach 1. Korinther 13,9-10). Etwas mehr Bescheidenheit und Empathie für unsere Mitmenschen täte uns gut.

Übrigens: Auf Wunsch des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt wurde dieses Lied beim Trauergottesdienst anlässlich seiner Beerdigung am 23. November 2015 gesungen.


* Als „Supermond“ wird der Vollmond bezeichnet, wenn er sich in seiner erdnächsten Position (mindestens 367.600 Kilometer) befindet und von der Sonne angestrahlt wird. Das ist kein astronomisch anerkannter Begriff und wurde so im Jahr 1979 vom Astrologen (sic) Richard Nolle benannt.

(Foto: beate bachmann, pixabay.com)

Der tatsächliche sichtbare Größenunterschied ist recht gering, wirkt aber beim Mondaufgang, wenn er sich nahe dem Horizont befindet, größer – ähnlich wie die Sonne, wenn sie auf- oder untergeht.


A little more humility
This week we could again look at a beautiful „supermoon“. This made me think of the words of the third verse of the evening song „Der Mond ist aufgegangen“ (The moon has risen) by Matthias Claudius (1740-1815) (his poem is one of the most famous works of German literature).

How often we imagine that we know exactly about something or someone! But we only know half the truth, the front side of the coin, what is obvious to everyone. How much we can deceive ourselves, misjudge situations or even smile at people! Already the apostle Paul said 2000 years ago: Our knowledge is fragmentary. Only in eternity will we recognize and understand the whole (according to 1 Corinthians 13:9-10). A little more humility and empathy for our fellow human beings would be good for us.

By the way: At the request of former German Chancellor Helmut Schmidt, this song was sung at the funeral service on the occasion of his burial on November 23, 2015.


Un poco más de humildad
Esta semana pudimos contemplar de nuevo una hermosa „superluna“. Esto me hizo pensar en las palabras de la tercera estrofa de la canción „Der Mond ist aufgegangen“ (La luna ha salido) de Matthias Claudius (1740-1815) (su poema es una de las obras más famosas de la literatura alemana).

¡Cuántas veces pensamos que conocemos perfectamente algo o a alguien, mientras que sólo conocemos la mitad de la verdad, una cara de la moneda, lo que es evidente para todo el mundo. ¡Cuánto podemos engañarnos a nosotros mismos, juzgar mal las situaciones o incluso reírnos de algunas personas! Ya lo dijo el apóstol Pablo hace 2000 años: Nuestros conocimientos son fragmentarios. Sólo en la eternidad reconoceremos y comprenderemos la totalidad (según 1 Corintios 13:9-10). Un poco más de humildad y empatía con nuestros semejantes nos vendría muy bien.

Por cierto: a petición del excanciller Helmut Schmidt, este poema se cantó en su servicio fúnebre el 23 de noviembre de 2015.