Welch tiefe Gedanken und welch aktuelle Bezüge enthält das so schlichte wie berühmte Abendlied von Matthias Claudius „Der Mond ist aufgegangen“!
Wenn es in der 2. Strophe heißt „Wie ist die Welt so stille / und in der Dämmrung Hülle / so traulich und so hold! / Als eine stille Kammer, / wo ihr des Tages Jammer / verschlafen und vergessen sollt“, denke ich daran, dass kurz zuvor der blutige bayrische Thronfolgekrieg ausgebrochen war. Ob es uns heute gelingen kann, beim Betrachten der Sterne am Himmelszelt vor der Größe und Schönheit der Schöpfung Gottes das Tosen der aufgewühlten Welt (des Tages Jammer) für eine Weile zu vergessen und der Macht Gottes mehr zu vertrauen?
Die 3. und die 4. Strophen sprechen mich besonders an: „Seht ihr den Mond dort stehen? / Er ist nur halb zu sehen / und ist doch rund und schön: / so sind wohl manche Sachen, / die wir getrost belachen, /weil unsre Augen sie nicht sehn. // Wir stolzen Menschenkinder / sind eitel arme Sünder / und wissen gar nicht viel. / Wir spinnen Luftgespinste / und suchen viele Künste / und kommen weiter von dem Ziel.“
Als Matthias Claudius sein Lied schrieb, stand die „Vernunft“ ganz oben auf der Werteskala. Auch in der Kirche und der Theologie sollte es „rational“ zugehen, vernünftig. Der Kopf war der wichtigste Körperteil und alle Gefühle, alle Spiritualität galt als eher suspekt. Es war die Hochzeit der „Aufklärung“ – aber auch schon die Zeit, in der manch wacher Geist, wie Claudius, warnte. Nur Vernunft und Verstand – da drohten dem Menschen ganze Dimensionen seines Lebens verloren zu gehen. Vernunft und Verstand sind wichtig, aber der Mensch ist mehr als sein Intellekt und sein Kopf. Darum erinnerte Claudius alle, die den Verstand vergöttern: Wie könnt ihr das lächerlich machen, was ihr nicht seht?
Matthias Claudius wusste, dass hinter dem halben Mond sich ein ganzer Mond verbarg, rund und schön. Der halbe Mond war ihm ein Zeichen: Vieles bleibt unseren Augen und unserem Wissen verborgen und ist doch wahr. Meinte das nicht auch Paulus, als er schrieb: „Unser Wissen ist Stückwerk“ (1. Korintherbrief 13,9ff.? Wir sehen und erkennen immer nur in Stücken; beschreiben den Rüssel oder das Ohr und halten das fürs Ganze, ohne eine Ahnung von dem Elefanten zu haben, dem sie gehören. Wir kennen nie das Ganze. Wir kennen nie die ganze Wahrheit. Keiner von uns. Das sollte uns „stolze Menschenkinder“ demütig machen. Und verständnisvoller unseren Mitmenschen gegenüber.
Es hat alles mindestens zwei Seiten, wir kennen häufig die Rückseite nicht:
• Wir belachen die schwache Leistung eines Mitarbeiters oder eines Freundes und wissen nicht, wie viel Überwindung oder Anstrengung es ihm gekostet hat, das zu tun.
• Wir bedauern einen Menschen in seinem Leid und wissen nicht, wie glücklich und zufrieden er in seinem Innersten ist.
• Wir beneiden den Nachbarn um seine Gesundheit, seine angeblich intakte Familie, seinen Wohlstand, kennen aber nicht seine schlaflosen Nächte, seine Angst vor der Zukunft.
• Wir beklagen, dass uns unsere Kinder nicht besuchen oder sich so selten melden, wissen aber nicht, dass sie vielleicht in einer Ehe- oder sonstigen Krise stecken, oder dass sie beinah im Stress des Berufs untergehen.
• Wir beschweren uns über das unfreundliche Benehmen der Krankenschwester oder der Pflegekraft und ahnen nicht, was in deren Ehe oder Familie gerade los ist, dass sie vielleicht eine schlaflose Nacht gehabt haben oder gerade um das Leben eines lieben Menschen ringen.
Weil wir die verborgene Seite eines Menschen nicht kennen (oft genug kennen wir nicht einmal uns selbst), sollten wir barmherziger und liebevoller miteinander umgehen. Wie anders würde es in unserer nächsten Umgebung (Familie, Arbeitsplatz, Kirchengemeinde, Nachbarschaft) aussehen, wenn wir unsere Mitmenschen so annehmen würden, wie Christus uns angenommen hat (Römer 15,7) – obwohl er uns wirklich kennt, auch unsere verborgenen Seiten!
- Eine der vielen Versionen des Liedes (4:57 Min)